Uhrenwissen Kompakt: Wie die Schweiz es schaffte, den USA ihren Rang als Uhrennation abzulaufen

By Montredo in Watch 101
Mai 7, 2021
Uhrenwissen Kompakt: Wie die Schweiz es schaffte, den USA ihren Rang als Uhrennation abzulaufen

Wer denkt, die Schweiz hatte schon immer ihre heutige Platzhirsch-Stellung inne, irrt. Vor rund einem Jahrhundert waren die USA nämlich noch ein bedeutender Akteur in der globalen Uhrenindustrie, ehe sie allmählich beim Übergang von Taschenuhren zu Armbanduhren den Anschluss verloren.

Wie konnte es dazu kommen?

Profiteur der Industriellen Revolution

An der Schweizer Dominanz zweifelt heute keiner mehr, auch wenn Länder wie Deutschland oder Japan dem Land dicht auf den Fersen sind. Doch dies war nicht immer der Fall.

Vor etwas über einem Jahrhundert war Amerika bzw. genauer gesagt die USA noch ein echter Key Player in der globalen Uhrenindustrie. So war das Land neben England, Frankreich, Deutschland und der Schweiz tonangebend in der Produktion von (Taschen-)Uhren. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Während vor allem in der Schweiz noch die Tradition zelebriert wurde und exquisite Zeitmesser ein Ergebnis vieler Tage Handarbeit waren, erkannten die emsigen Amerikaner frühzeitig das Potenzial neuer Technologien.

Der Ursprung dessen liegt in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit leisteten v.a. die Waltham Watch Company und ihr Gründer Aaron Dennison echte Pionierarbeit mit dem “American System of Watchmaking“. Die in den 1850er-Jahren entstandene Konzeption war ein Gegenentwurf zur Schweizer Herangehensweise und sah vor, bei der Produktion von Uhren Kosten zu senken und die Produktionsrate zu maximieren. Zeit ist eben doch Geld.

American Waltham Watch Factory
Waltham-Uhren wie am Fließband.

Dennisons Inspirationsquelle dafür soll angeblich ein Besuch der Springfield Armory, einem US-amerikanischen Hersteller von Schusswaffen, gewesen sein. Dort sah er, wie Gewehre mit austauschbaren Teilen hergestellt wurden, was ihn dazu verleitete, die Idee auch auf die Uhrenproduktion zu übertragen. Seine Vision war es, dass künftig austauschbare Teile, die auf eigens dafür hergestellten Maschinen in Massenproduktion hergestellt wurden, von angelernten Arbeitskräften zusammengesetzt werden könnten – nicht mehr von spezialisierten Uhrmachern.

Die neue Rationalisierung der Uhrmacherei

Bis heute existierende Marken wie Bulova oder Hamilton (sowie nicht mehr existierende Marken wie Waltham oder Elgin) profitieren damals enorm vom technologischen Fortschritt ihrer Zeit, was es ihnen erlaubte, stark zu expandieren. Elgin beispielsweise stieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum weltweit größten Hersteller von Massen-Uhren auf.

Elgin Pocket Watch
Eine Elgin-Taschenuhr aus dem frühen 20. Jahrhundert. © 1stDibs

In der Schweiz wurde die Entwicklung auf der anderen Seite des Atlantiks natürlich mit Argwohn betrachtet. Auch, wenn das Ergebnis nicht ganz so disruptiv wie die etwas später eintretende Quarzkrise war, spürten die Schweizer den Einfluss der neuen Produktionsweise am eigenen Leibe.

Die in Massenproduktion hergestellten (Taschen-)Uhren waren nämlich ebenfalls hochwertig, wenngleich deutlich günstiger als ihre europäischen Pendants. Durch eine fortschreitende Standardisierung konnte so nicht nur größere Quantitäten produziert werden, sondern auch die Kosten deutlich gesenkt werden. Dies machte mechanische Uhren einer breiteren Masse zugänglich, was nicht für Schweizer Uhren gilt und so ihren Absatzmarkt ins Schleudern brachte. Ab den 1870er-Jahren fielen die Verkaufszahlen deutlich.

Bloß nicht unterkriegen lassen

Anlässlich der Centennial International Exhibition von 1876, der ersten offiziellen Weltausstellung in den USA, schickten die Schweiz einige Vertreter in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Was sie dort sahen, öffnete ihre Augen: Eine Drahtspule wurde in das eine Ende der vollautomatischen Waltham-Schraubenmaschine eingeführt und heraus kam am anderen Ende ein stetiger Strom perfekt geformter Schrauben von der Größe eines Stecknadelkopfes. Uhrenschrauben von vergleichbarer Qualität konnten von den handgesteuerten Maschinen, die die Schweizer verwendeten, einfach nicht hergestellt werden.

Diese rasante Automatisierung traf natürlich nicht nur auf Schrauben zu, sondern auf fast alle Teile einer mechanischen Uhr.

Elgin Watch Company
Elgin produzierte zu Hochzeiten bis zu 400.000 Schrauben am Tag.

In den frühen 1880er Jahren waren die Schweizer und Engländer daher vom amerikanischen Markt bereits so gut wie verdrängt. Die Engländer gaben quasi einfach auf und beschränkten sich fortan auf die hochwertigen Schiffschronometer, die von den Schiffen der Royal Navy benötigt wurden. Zudem stellte die englische Uhrenindustrie überteuerten Ramsch her, der lediglich zuhause verkauft werden konnte, unmöglich aber woanders. Letztlich etablierten sie als letzten verzweifelten Akt einen neuen Protektionismus, indem sie die Einfuhrzölle erhöhten und so Importe aus Übersee einschränkten.

Anstatt genauso den Kopf im Sand zu vergraben, beschlossen die Schweizer, sich stattdessen an den neuen Markt anzupassen. Man muss sich hier vor Augen führen, dass die Schweizer Uhrenindustrie vor den 1880er-Jahren noch aus Hütten in kleinen Dörfern bestand, in denen nur einige Teile eines Uhrwerks oder eines Uhrengehäuses hergestellt wurden.

Watchmaker Vallée de Joux
Bergbauern verdienten sich während der langen Wintermonate ein Zubrot als Uhrmacher.

Um eine fertige Uhr zu erhalten, mussten diese Teile dann in anderen kleinen Werkstätten zusammengebaut werden. Dies bedeutete natürlich im Umkehrschluss auch, dass jede Uhr von Hand nachbearbeitet werden musste, um die Unterschiede zwischen den einzelnen Teilen auszugleichen.

Nachdem die Schweizer das amerikanische System der Fertigung gesehen hatten, reorganisierten sie sich in zentralisierten Fabriken mit einem gewissen Grad an Automatisierung. Diese Fabriken waren zwar immer noch sehr klein im Vergleich zu amerikanischen Unternehmen und sie waren immer noch nicht so automatisiert, nun allerdings in der Lage, kosteneffizienter Uhren herzustellen, um so nicht komplett den Anschluss zu verlieren.

Der 1. Weltkrieg bringt die Wende

Dass Blatt wendete sich im neuen Jahrhundert. Als Resultat des Krieges wandelten sich Uhren nämlich immer mehr vom Modeartikel für Frauen zum beliebten Gebrauchsgegenstand für Männer. Die Nachfrage nach Taschenuhren wurde folglich immer geringer, während die Armbanduhr das neue must-have item des modernen Mannes wurde.

Dies brachte die US-amerikanischen Hersteller in eine missliche Lage.

Trench Watch
Eine “Grabenuhr” aus dem 1. Weltkrieg mit Schutzgitter.

Während die Schweiz (und inzwischen auch andere europäische Hersteller) schnell auf diesen Paradigmenwechsel reagierten, hatte der amerikanische Markt große Mühe, mitzuhalten. Das Problem war, dass die Firmen über Jahrzehnte ihre Fließbänder auf die Produktion von Taschenuhren spezialisiert hatten und eine komplette Neukonstruktion in Richtung von Armbanduhren zu kosten- und zeitintensiv war. Zusammen mit der 1929 einsetzenden Großen Depression war der Branchenwandel zu viel des Guten, was vielen traditionsreichen Uhrenmarken für immer den Garaus machte. Uhren wurden zu einem Luxus, dessen Kauf sich die meisten Menschen einfach nicht mehr leisten konnten.

Auch nach dem 2. Weltkrieg, als plötzlich insbesondere Militär- und Fliegeruhren gefragt waren, konnten einige verbliebende amerikanische Uhrmacher einen erneuten Aufschwung verzeichnen, doch lediglich in Maßen. In den USA erlosch zusehends das Interesse an heimisch hergestellten Uhren.

Wer langsam geht, kommt weit

Die Schweizer hatten gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihre Lektion gelernt und waren nicht bereit, noch einmal einen so beachtlichen Teil ihres Kuchens abtreten zu müssen.

Während die USA mit zwei Weltkriegen und einer schweren Wirtschaftskrise zu kämpfen hat, modernisierten sich die Hersteller langsam aber sicher immer weiter. So kam es, dass die Schweizer in den 1950er-Jahren maschinell gefertigte, aber dennoch komplizierte Armbanduhren (wie Chronographen, Automatik-Uhren oder Uhren mit Tag-Datum-Komplikation) perfektioniert hatten.

Swiss Made Watches Switzerland

Während dies den aktuellen Zeitgeist traf, waren die Amerikaner schlichtweg nicht mehr in der Lage dazu, den Übergang von einfachen Uhren zu den komplizierten Modellen zu meistern, die in den späten 1950er- und 1960er-Jahren immer gefragter wurden.

Fazit

Während beispielsweise die Engländer zu früh das Handtuch warfen, hielten die Schweizer fast schon stoisch daran fest, was sie am besten konnten: hochwertige mechanische Uhren zu fertigen.

Durch eine schnelle Reaktionsfähigkeit an aktuelle Trends, speziell den Wandel von der Taschenuhr zur Armbanduhr, eine kontinuierlich fortschreitenden Modernisierung und sicherlich auch eine Prise geopolitisches Glück gelang es dem Land so, sich wieder an die Spitze der Uhrmacherei zu kämpfen. Eine Position, die die Schweiz bis heute nicht abgegeben hat.


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Vorherige Kommentare (2)

  1. Wirklich schade, dass eine Marke wie Timex überlebt hat, aber Schwergewichte wie Elgin oder Waltham nicht.
    Ich könnte mir gut vorstellen, dass diese Marken auch heute noch ein gutes Standing hätten.

    Mai 7, 2021
  2. Sehr interessante Zusammenfassung.
    Vielleicht als nächstes einen Artikel über den “Untergang” der englischen Uhrmacherei?

    Juni 3, 2021

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