In den Siebziger- und Achtzigerjahren litt die Schweiz unter der größten Wirtschaftskrise ihrer Geschichte. Die sogenannte Quarzkrise betraf die gesamte Uhrenindustrie und hätte sie fast ins ewige Aus befördert. Die Krise kostete innerhalb von 13 Jahren rund zwei Dritteln der Branchenmitarbeiter die Arbeitsplätze und schürte so große Existenzängste. Aber was genau war die Quarzkrise und wie konnte sich die Schweiz vor dem Untergang ihrer wertvollsten Industrie retten?
Anfang des 20. Jahrhunderts und bis weit nach dem zweiten Weltkrieg stammten 95 % aller weltweit verkauften mechanischen Uhren aus der Schweiz. Konkurrenz gab es praktisch nicht, zu groß war der handwerkliche und technische Vorsprung. Produziert wurde in staatlich kontrollierten Klein- und Kleinstbetrieben, gearbeitet wurde zum größten Teil per Hand und mit einfachen, aber bewährten Maschinen. Schweizer Uhren waren damals schon Synonym für Perfektion, Handwerkskunst und Qualität. 90.000 Menschen arbeiteten direkt oder indirekt für die Uhrenbranche. So komfortabel stellte sich die Situation bis Anfang der Siebzigerjahre dar. Doch dies sollte sich tragischerweise bald ändern.
Im Jahr 1969 lancierte der japanische Uhrenherstelller Seiko seine erste kommerziell vermarktete Quarzarmbanduhr, die auf den Namen Astron hörte. Scheinbar ganz nebenbei erfand das Unternehmen ein völlig neues Marketing für seine industriell gefertigten Produkte. Statt auf Handwerkskunst und Fertigungstiefe zu setzen, wurde die Ganggenauigkeit einer Uhr in den Fokus gerückt. „Quarzgenau“, eine Eigenschaft, die die preisgünstigen Uhren aus Fernost mit Bravour meisterten.
Die Japaner präsentierten ihre Uhren außerdem jung, frisch und frech. Dank hochmoderner Produktion waren sie qualitativ solide – oder anders gesagt: gar nicht mal so schlecht. Die Herkunftsbezeichnung “Swiss made” war auf einmal wertlos und angestaubt. Seiko-Center schossen überall aus dem Boden, während mechanische Uhren aus Schweizer Fabrikation plötzlich als ungenau und überteuert galten. Auch in den jeweiligen Quarzversionen wurden sie zu kostspieligen Ladenhütern, die nur mit Mühe und großen Rabatten an die Käufer gebracht werden konnten.
Es ist paradox: Eines der weltweit ersten Quarzwerke wurde bereits Anfang der Siebzigerjahre von einem Schweizer Uhrmacher-Konsortium gefertigt. Unter anderem verbauten Omega, Rolex und Patek Phillipe damals das sogenannte Beta 21 Uhrwerk, nennenswerte Verkäufe blieben jedoch aus. Trotz oder gerade wegen dieser Innovation ging es mit tiefroten Zahlen Jahr um Jahr bergab. Nach langem Kampf gegen Preisverfall und Imageverlust stand die Uhrenindustrie in der Schweiz Ende der Siebzigerjahre praktisch vor dem Aus. Niemand rechnete noch mit einer Wende. Niemand?
Anfang der Achtzigerjahre beauftragten die Schweizer Banken den Unternehmensberater Nicolas George Hayek mit der Analyse der scheinbar hoffnungslosen Situation. Hayek, der sich selbst einmal als ungeduldigen Träumer beschrieb, fand gleich zwei Wege aus der Krise. Seine Idee war, die Marken der zwei größten Uhrenkonzerne (ASUAG und SSIH) unter einer starken Dachmarke zu vereinen und eine neue Uhrenkollektion zu entwickeln, die Schweizer Qualität zum kleinen Preis bietet. So wurden mithilfe eines Bankenabkommens die Swatch-Group geboren – mit Nicolas G. Hayek an der Spitze.
Nun war Eile geboten. Nach kurzer Entwicklungszeit ließ Hayek Quarz- und Automatikwerke in Kunststoffgehäuse bauen und brachte die Uhren in riesigen Stückzahlen unter dem Namen Swatch auf die internationalen Märkte. Dabei setzte er auf eine provokante, für die Schweizer Uhrenbranche äußerst ungewöhnliche Vermarktungsstrategie. Swatch-Uhren waren flach, leicht, bunt und schrill. Hayek persönlich entschied, welche Designs in Produktion gingen. Im unteren Preissegment traten die Swatch-Uhren in direkte Konkurrenz zu den Uhren aus Japan. Swatch war weltweit plötzlich trendiges Accessoire der damaligen Popkultur. Swiss made war wieder en vogue. Ein Geniestreich in buchstäblich letzter Sekunde.
Der große Erfolg der Swatch-Uhren bildete die finanzielle Basis für die Wiederbelebung der einst großen Traditionsmarken. Sie stellten das Fundament, Luxusmarken wie Longines und Omega kennzeichneten dabei Mitte und Spitze des Geschäfts. Die als Hayek-Pyramide bezeichnete Idee ging auf. Unter dem Dach der Swatch-Group befinden sich heute unter anderem auch die Marken Glashütte Original, Blancpain, Tissot, Certina und Hamilton. Nicolas G. Hayek verstarb 2010. Heute leitet sein Sohn Nick Hayek das Unternehmen im schweizerischen Biel.
Verantwortlich für die Rettung aus der Quarzkrise waren nicht allein Hayek und die Banken. Ein junger Manager namens Jean-Claude Biver kaufte 1982 die Rechte der angeschlagenen Marke Blancpain und trat dem Hayek-Team bei. Mit Blancpain und später Zenith setzte Biver wieder auf mechanische Luxusuhren und bewarb sie mantraartig mit den Begriffen Kunsthandwerk, Tradition und Ewigkeit. Für Biver war und ist die Uhr Teil einer persönlichen Geschichte und tritt so über ihre eigentliche Funktion als reiner Zeitmesser hinaus. Eine Philosophie, die bis heute aufgeht. Jean-Claude Biver ist noch immer aktiver Manager der Schweizer Uhrenindustrie. Heute ist Biver nicht-exekutiver Präsident der Uhrensparte des französischen LVMH-Konglomerats mit den drei Uhrenmarken Tag Heuer, Zenith und Hublot.
Die Uhrenindustrie der Schweiz ist heute so erfolgreich wie nie. Die Umsätze steigen weltweit seit Jahren. 2018 wurden Uhren im Wert von 21 Milliarden Franken exportiert. Besonders stark sind die Umsätze in Hongkong, China, USA, aber auch im Vereinigten Königreich, Japan und Singapur. Die Branche konnte 3000 neue Stellen in der Schweiz schaffen. Auch der aktuelle Trend für 2019 ist sehr vielversprechend. Ohne Nicolas G. Hayek und Jean-Claude Biver wäre die große Welt der Uhren heute eine weitaus ärmere. Sie ließen eine bereits totgesagte Branche wieder auferstehen und hauchten ihr neues Leben ein.
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[…] Zuge der eintretenden Quarzkrise verlangte die Welt plötzlich nach batteriebetriebenen Uhren aus Fernost. Futuristisch. Präzise. […]
[…] Allemano zu dieser Zeit keine Uhren (sondern vor allem Unterwasserinstrumente) produzierte, machte die Quarzkrise der 1980er Jahre auch vor den Italienern nicht halt: Der Grund dafür war, dass mechanische […]
[…] war aber konsequenterweise dem damaligen Zeitgeist geschuldet und ist durch die damals eintretende Quarzkrise zu erklären, inmitten derer die erste Laureato auf die Welt kam. (Zwei Jahre später, 1977, hat […]
[…] ist das ETA-Untitas 6498 übrigens eines der wenigen Taschenuhrwerk aus Großserie, das die Quarzkrise in den 1970er Jahren überstanden hat. Noch heute kommt es selbst in Uhren mit fünfstelligen […]